Die deutsche Öffentlichkeit und die deutsche Völkerrechtswissenschaft sind derzeit im Kontext geopolitischer Verschiebungen in einer tiefgreifenden Neujustierung ihres Zugriffs auf die koloniale Vergangenheit begriffen. Vor diesem Hintergrund verhandelt Deutschland derzeit mit der namibischen Regierung über Entschädigungen wegen des Genozids an den Herero und Nama in den Jahren 1904 bis 1907. Allerdings sieht der überwiegende Teil der deutschen Rechtswissenschaft die Bundesregierung nur moralisch, aber nicht rechtlich zu Schadensersatz verpflichtet. Demnach handle es sich bei dem Genozid um einen nach deutschem Recht, nicht nach Völkerrecht zu beurteilenden Vorgang. Selbst wenn man die Anwendbarkeit des damaligen Völkerrechts voraussetze, sei es zumindest nicht in einer Weise verletzt worden, auf die sich die Nachfahren der Opfer berufen könnten. Der Beitrag fordert diese Sichtweise heraus, indem er ihr die Ambivalenz des Kolonialrechts entgegenhält, welches von den Widersprüchen der damaligen Gesellschaft durchzogen ist. Diese Spannungen sollten in der Rückschau nicht überspielt werden. Zudem stellt auch das europäische Völkerrecht nur eine mögliche Perspektive der rechtlichen Aufarbeitung dar. Anhand der Schriften von Hendrik Witbooi und Maharero versucht der Beitrag eine Rekonstruktion ihrer Rechtsauffassungen und stellt diese den Befunden des kolonialzeitlichen Völkerrechts gegenüber. Das hieraus resultierende vielschichtige Bild dürfte einen guten Ausgangspunkt für Verhandlungen über Entschädigungen auf Augenhöhe bilden.
In the context of geopolitical shifts, the German public and German international law scholarship are currently undergoing a far-reaching readjustment of their approach to the colonial past. Against this background, Germany is currently negotiating with the Namibian government about compensation for the 1904-1907 genocide of the Herero and Nama. However, the majority of scholarly voices from Germany considers the federal government to be morally, but not legally, obligated to pay compensation. According to this view, the relevant events are to be judged according to German law, not international law. Even if one presupposes the applicability of the international law of the time, it is argued that it had not been violated, at least not in a way that the descendants of the victims could invoke. The contribution challenges this view by countering it with the ambivalence of colonial law, which is permeated by the contradictions of the society of that time. These tensions should not be overplayed in retrospect. Moreover, European international law is only one possible perspective for legal analysis. On the basis of the writings of Hendrik Witbooi and Maharero, this contribution attempts to reconstruct their legal views and contrasts them with the findings of colonial international law. The resulting multi-layered picture should provide a good level playing field for negotiations on compensation.
Saturday, August 22, 2020
Goldmann: „Ich bin Ihr Freund und Kapitän“. Die deutsch-namibische Entschädigungsfrage im Spiegel intertemporaler und interkultureller Völkerrechtskonzepte
Matthias Goldmann (Goethe-Universität Frankfurt am Main - Law) has posted „Ich bin Ihr Freund und Kapitän“. Die deutsch-namibische Entschädigungsfrage im Spiegel intertemporaler und interkultureller Völkerrechtskonzepte ('I am Your Friend and Captain'. German-Namibian Reparation Claims and the Intertemporal and Intercultural Dimensions of International Law) (in (Post-)Koloniale Rechtswissenschaft, Philipp Dann, Isabel Feichtner & Jochen von Bernstorff eds., forthcoming). Here's the abstract: